Kein Zweifel, der Stein war gut gemeint gewesen. Zusammen mit drei ebenso gewichtigen Kameraden besetzte er eine Grünfläche am Kapellenweg, genauer gesagt den spitzen Winkel an der Abzweigung des Fußwegs hinab zur Schlierbergstraße – auf dass kein Mountainbiker, Jogger oder Spaziergänger vom asphaltieren Weg abweichen und etwa eine Abkürzung ins Wiesengras trampeln möge. Ein Stein also, der die Aufgabe hatte, einfach nur da zu sein und seinen Platz zu verteidigen. Für diesen Job war er bestens ausgestattet: Mindestens einen Zentner schwer, nur vielleicht etwas zu rundlich. Kugelrund nämlich. Diese fast perfekte geometrische Form wurde ihm zum Schicksal: Denn im Sommer 2012 ging es abwärts mit ihm. Seitdem hat sich besagter Stein in mehreren Etappen den Hang hinunter bewegt. Fast ein halbes Jahr lag er inmitten der Schlierberg-Wiese, bis er Anfang November wieder in Bewegung kam. Nun liegt er an der Schlierbergstraße, dreihundert Meter von seinem Ausgangspunkt entfernt, doch man ahnt schon, dass auch dieser Aufenthaltsort ihm nur vorübergehend beschieden sein wird.
Woher unser Stein kommt, ist also geklärt; wohin er gehen wird, bleibt ungewiss. Doch wer hat ihn in Bewegung gesetzt? Wir können uns verschiedene Szenarien vorstellen. Zum Beispiel, dass militante Gegner der Schlierberg-Bebauung ein Zeichen setzten wollten: „Seht!“, lautet ihre Botschaft, „seht, was passieren könnte, wenn irgendwann einmal Bagger und Baumaschinen die Schlierberg-Wiese kaputtmachen – dann könnten noch mehr Steine rollen!“ Denkbar, aber unwahrscheinlich. Eine andere These lautet, dass ein buddelnder Hund den Stein versehentlich in Bewegung gesetzt hat. Oder eine Rotte Wildschweine, die auf der Suche nach Nahrung vom Kreuzkopf herunterkam. Vielleicht waren es auch Gespenster: Soldaten, die in Schlacht von 1644 am Schlierberg fielen und seitdem hier als Geister herumspuken. Mit etwas Mühe könnten wir uns sogar vorstellen, dass mutwillige junge Leute in angeheiterter Stimmung den Stein zum Gegenstand einer nächtlichen Kraftprobe machten. Genauso gut ist es aber möglich, dass der Stein seine bürgerliche Sesshaftigkeit in gehobener Wohnlage nicht mehr ertragen konnte und sich aus eigenem Antrieb auf die Reise machte.
Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, mehr über die Geschichte des rollenden Steins am Schlierberg wissen oder noch eine andere, verwegene Theorie haben, schreiben Sie uns! Und den Namen des Steins wüssten wir eigentlich auch gern: Heißt er Mick, Keith, Ron, Charlie oder vielleicht ganz anders? Vorschläge sind willkommen.
Andreas Waetzel