Die Geschichtswerkstatt der Lessing-Realschule hatte sich im Rahmen des „Klingenden Adventskalenders“ im Dezember 2022 mit einigen musikalisch umrahmten Schülerbeiträgen kurz vorgestellt. Diese Vorstellung hat großes Interesse geweckt. Wir möchten den Bürger*innen mit diesem Beitrag einen Einblick in die Arbeit der Geschichtswerkstatt geben.
Von 1936 bis 1940 existierte in Freiburg eine Zwangsschule für jüdische Kinder. Lange Zeit war sie in Vergessenheit geraten. Seit 2001 wird die Geschichte dieser Zwangsschule in der Geschichtswerkstatt der Lessing Realschule aufgearbeitet. Frau Rosita Dienst-Demuth, seit 1994 Lehrerin an der Lessing-Realschule, gründete damals die Geschichtswerkstatt. Entscheidender Anstoß war die Begegnung mit einer aus Emmendingen stammenden, in Israel lebenden ehemaligen Schülerin der Zwangsschule. Seitdem erforscht Frau Dienst-Demuth mit ihren Schüler*innen die Schicksale der Ermor-deten und Überlebenden der Zwangsschule.
Von über 60 jüdischen Kindern und ihren Lehrer*innen aus Freiburg und 13 Gemeinden Südbadens haben dank vieler Helfer*innen 92% den Holocaust überlebt. In den Schicksalsbeschreibungen werden die Schrecken des Holocaust greifbar, den die Jugendlichen überlebten, meist ohne Eltern und Verwandte. Diese wurden fast ausnahmslos in Auschwitz ermordet.
Rund 30 Überlebende haben sich auf Kontakt- und Recherche-Angebote der Geschichtswerkstatt eingelassen. Es waren intensive, teils schwierige Recherchen mit vielen daraus entstandenen persönlichen Begegnungen mit Geretteten, deren Nachfahr*innen wie auch den Nachkommen der Retter*innen. Das Aufbrechen der traumatischen Erlebnisse, Erinnerungen zuzulassen, Kontakte in das Land der Peiniger aufzunehmen, war ein langsamer Prozess, der zu vielen offenen und befreienden Begegnungen geführt hat. Sichtbares Zeichen einer neuen Möglichkeit der Begegnung war die Einweihung einer Gedenktafel an der Lessingschule im Jahre 2004. Es kamen 17 ehemalige „Zwangsschüler“ sowie Nachkommen von Geretteten und Retter*innen. Seither werden diese Kontakte in alle Welt gepflegt. Mehrere Filme und zahlreiche Dokumentationen sind im Rahmen der Arbeit der Geschichtswerkstatt entstanden. Schüleraustausche nach Israel und in die Ukraine konnten realisiert werden.
Wie konnten die jüdischen Schüler den Völkermord überleben? Ab 1939 organisierten unerschrockene Menschen und Organisationen Kindertransporte in die Schweiz, nach England, in die USA und nach Palästina. Im Oktober 1940 wurden 6504 Menschen jüdischer Herkunft aus Baden und der Saarpfalz ins Internierungslager Gurs in Südfrankreich deportiert, darunter 563 Kinder; 416 Kinder konnten gerettet werden. Darunter befanden sich alle 24 deportierten Kinder der Zwangsschule. Unter den Retter*innen waren das jüdische Kinderhilfswerk OSE (Oeuvre de secours aux enfants), die Quäker, das Schweizerische Rote Kreuz und viele mutige Menschen wie Leiterinnen von Kinderheimen, Widerstands-kämpfer*innen der Resistance, Mönche und Nonnen in Klöstern, Pfarrer, Bauern und Bäuerinnen sowie viele Einzelpersonen.
Auch in Freiburg und Umgebung gab es Menschen wie Fritz Schaffner, Freiburger Polizist und NSDAP Mitglied, der zweimal die Deportation der Familie seines Freundes Gustav Judas verhinderte, dessen Kinder in der Zwangsschule unterrichtet wurden.
Zwei mutige Frauen, Maria Hartmann und Agathe Burgert aus Bollschweil, retteten die jüdische Familie Heilbrunner, die im Verwaltungshaus des jüdischen Friedhofes an der Elsässer Straße lebte. Frau Hartmann, Metzgereiangestellte und Mutter von fünf Kindern, versorgte die Familie bereits seit 1943 heimlich mit Lebensmitteln. Das Haus wurde in der Bombennacht am 27.11.1944 zerstört. Danach lebte die Familie notdürftig auf dem jüdischen Friedhof zwischen den Grabsteinen, da es für sie unmöglich war, eine Wohnung zu finden. Durch die Hilfe von Frau Hartmann gelang der Familie die Flucht nach Bollschweil zu Agathe Burgert, einer beherzten Bäuerin, die Familie Heilbrunner auf ihrem Hof versteckte. Sie brachte sich selbst damit in große Gefahr; ein Pfarrer war in Bollschweil bereits denunziert und im KZ ermordet worden. Familie Heilbrunner hat die NS-Zeit überlebt. Für die beiden stillen Heldinnen gibt es seit 2005 eine Gedenktafel am Gebäude der Filiale der Sparkasse in der Elsässer Straße. Zwei Ururenkel von Agathe Burgert waren an der Schüler-Recherche der Geschichtswerkstatt beteiligt.
80 Jahre nach der Deportation wurden 2021 die Retter*innen mit einem im Schulhof der Lessing-Realschule gepflanzten Baum für stille Helden und Heldinnen gewürdigt.
Die Schüler*innen der Geschichtswerkstatt an der Lessing-Realschule haben mit ihrer Initiatorin und Leiterin, Frau Rosita Dienst-Demuth, in den 20 Jahren ihres Bestehens sehr viel wertvolle Arbeit geleistet. Es wurde das Interesse und das Engagement der Schüler*innen geweckt, sich mit Schicksalen von verfolgten und geächteten Menschen und von mutigen Rettern auseinanderzusetzen, persönliche Kontakte zu diesen und deren Nachfahr*innen zu knüpfen und zu pflegen; ein wichtiger Schritt gegen das Vergessen und in der Erziehung zu Zivilcourage.
Dr. Gabriele Denz-Seibert